Abbruch des alten Fachwerkhauses Reckenfelderbäumer

Zeugnis kleinbäuerlicher Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse aus dem 19. Jahrhundert
Mesum – Unterschiedlicher konnten die beiden Häuser nicht sein, die in kurzer Zeit hinter einander in Mesum abgerissen wurden. Das Spinnmeisterhaus Gröning an der Rheiner Straße war ein ortsbildprägender, imposanter und prächtiger Steinbau mit Putzfassade und stand als ein eindrucksvolles, architektonisches Zeugnis für das soeben begonnene Industriezeitalter. Dagegen war das kleine Fachwerkhaus am Hohe Heideweg die bescheidene Behausung einer ärmlich lebenden Kötter- und Tagelöhnerfamilie und dokumentierte – aber nicht minder beachtenswert – zum Ende der vorindustriellen Ära im ausgehenden 19. Jahrhundert die damals vorherrschenden kleinbäuerlichen Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse. Damit verlor Mesum zwei wichtige Bauwerke, die jeweils auf ihre einmalige Weise aus Geschichte und Entwicklung des Dorfes wie in einem steinernen Geschichtsbuch erzählen konnten.*Ein typisches Kötter- und Tagelöhnerhaus*Das sich klein und unscheinbar hinter einer Hecke duckende Fachwerkhaus am Hohe Heideweg war in seiner Historie typisch für Mesum. Die Aufarbeitung seiner Geschichte(n) erlaubt verschiedenartige und zugleich faszinierende Einblicke in Alltag, Leben und Schaffen der Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Zugleich werden Eindrücke und Kenntnisse aus einer Geschichtsepoche vermittelt, in der in Mesum mit der beginnenden Industrialisierung an der Schwelle zu einer neuen Zeit wesentliche Weichen für die dörfliche, wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung gestellt wurden.

Der erste uns bekannte Bewohner des Hauses war Wilhelm Reckenfelderbäumer, der 1847 in Greven geboren wurde und von Beruf Heimweber, Kötter und Tagelöhner war. So erzählte einst dessen Enkel Franz Reckenfelderbäumer aus der Familiengeschichte. Diese reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück, als eine Familie „Bomer“ (Bäumer) in Greven erwähnt wird. 1535 wird sie als „Halberbe und Brinksitzer“ bezeichnet mit der Aufgabe, den Schlagbaum dort an der „Rheinischen Straße“ zur Bauerschaft Reckenfeld hin zu bedienen. Der „Bäumer“ musste das regelmäßige Öffnen und Schließen des Tores in der Landwehr (mittelalterliche Befestigungsanlage) besorgen und damit eine wichtige örtliche Kontroll- und Sicherungsfunktion ausüben. Aus dieser Tätigkeit samt Ortslage entstand dann der Hausname „Reckenfelderbäumer“. Wie, wann und warum ein Vorfahr nach Mesum kam, darüber schweigt die familiäre Überlieferung. Sie setzt wieder ein, als Wilhelm Reckenfelderbäumer, der 7. von neun Kindern, 1875 hier die 27-jährige Anna Maria Treckeler heiratete. Sie stammte aus dem Hause am Flöddert (heute Haus Brink). Als sie 1945 mit 97 Jahren starb, war sie für lange Zeit die älteste Mesumerin.

Ob die Eheleute Reckenfelderbäumer das Haus zu ihrer Hochzeit errichteten, kann angenommen werden. Ein Baudokument wie die Genehmigung oder eine Inschrift mit Initialen und Jahreszahl gibt es dazu nicht. Von seiner Großmutter wusste Franz Reckenfelderbäumer vor 40 Jahren zu erzählen, dass die hohen Eichen vor und an dem Haus schon 1875 „große Bäume“ gewesen seien. Das könnte ein vager Hinweis auf eine vorhergehende Wohnstätte sein. Allerdings deutet die alte Hausnummer „Dorf 111“ darauf hin, dass das Haus um 1875 gebaut wurde. So trug nämlich der Bahnhof Mesum, 1856 errichtet, mit seinen Dienstwohnungen die Nummern 97/98. Wissen muss man dazu, dass die Hausnummern noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit/nach dem Zeitpunkt des Hauneubaues vergeben wurden. Haus 111 muss also 13 Häuser später als der Bahnhof und damit deutlich nach 1856 entstanden sein.

Auf jeden Fall handelte es sich um eine für Mesum typische Hausart, die in dieser Zeit üblich war: Schlichter Fachwerkbau und ohne jegliche Verzierungen verzimmert, traufseitig zur Straße gestellt, hohes Satteldach (statt früherer Strohbedachung nun mit Hohlziegeln behangen), an der Giebelseite mit doppelflügeliger Tennentür („Deelendüör“), Küchentür als Eingang vom Weg her, schmale und hohe zweiflügelige Fenster mit kleingeteilten Oberlichtern, mit Giebeln, die ohne Überstand verbrettert waren, und mit zwei Schornsteinen, die den Dachfirst ein wenig überragten.

Ausgemauert war das Fachwerk mit rötlich scheinenden Klinkern. Aber dazu gibt es eine eigentümliche Erzählung: Es handelte sich ursprünglich um fahle Backsteine, die aus gelblichem Ton auf dem Hof Haspert (heute Sundermann) im Nasigerhook gebrannt worden sein sollen. Alsbald hätte einem der frühen Hausbewohner diese helle Farbe nicht mehr gefallen und er habe das Verblendwerk rötlich übermalt. Damit sahen die Steine anschließend aus wie bei den meisten der übrigen Mesumer Häuser aus roten Ziegelmauern.

*Ein Haus zum Wohnen, Arbeiten und fürs Vieh*

Der Grundriss des ursprünglichen Gebäudes lässt sich ziemlich genau rekonstruieren. Zum einen gibt es dazu noch genügend Wissen in der Familie, zum anderen aber gleicht er haargenau der Architektur vieler noch aus dieser Zeit bekannten Mesumer Kötterhäuser (z.B. Haus Brink). Denn überall wohnten damals Familien in ähnlich kargen Verhältnissen, die von Heimweberei, gelegentlicher Tagelohnarbeit und einem kleinen Kotten mit ein wenig Ackerland, von Gartenerzeugnissen und eigenem Viehbestand (Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner, Enten) lebten. Als ab Ende des 19. Jahrhunderts die heimischen Textilfabriken sichere und besser dotierte Arbeit boten, gaben viele Familienväter die Heimweberei auf, verkleinerten ihren kleinen landwirtschaftlichen Nebenerwerb und bauten einen Teil der Ställe und Wirtschaftsräume für Wohnzwecke um.

Das Haus war 16 Meter lang und acht Meter breit. Durch die breite Tennentür in der westlichen Giebelseite betrat man eine geräumige Deele. Rechts standen zwei Kühe und dahinter befand sich ein kleiner Futterraum, der später als Waschkammer diente. Linker Hand lagen zwei Schweineställe, denen sich eine winzige Schlafkammer anschloss, die ihren Zugang von der Küche besaß. Über die Deele, aber auch vom Eingang an der Straßenseite her konnte die zentrale Küche betreten werden. Sie verlief nicht, wie das bei wohlhabenderen Hausbesitzern und großen Bauernhäusern der Fall war, quer durch das gesamte Gebäude, sondern nahm nur eine Raumhälfte ein. Von der Eingangstür schritt der Besucher direkt auf die Herdstelle mit offenem Rauchabzug („Bosen“) an der Stirnwand zu. Dahinter befanden sich die leicht erhöhte Upkammer und darunter ein niedriger Keller, in den einige wenige Stufen hinab führten. Zwei Stuben nahmen die östliche Hausseite ein, wobei die kleinere wohl als Schlafkammer genutzt wurde.

Der weitaus größere Raum diente als Webkammer, in der vier Webstühle gestanden haben sollen. Diese verhältnismäßig große Zahl erstaunt, galten seinerzeit in Mesum doch ein oder maximal zwei Handwebstühle als üblich. Es kann vermutet werden, dass hier vorübergehend ein oder zwei Lohnweber, möglicherweise auch dauerhaft, beschäftigt wurden. Für diese These lassen sich Argumente finden. Zum Kotten gehörten früher nur zwei Morgen Acker (etwa 5000 Quadratmeter) und das sei zu wenig zum Lebensunterhalt einer Familie mit mehreren Kindern gewesen, erzählte einst Franz Reckenfelderbäumer. Darum hätten sich beide Großeltern der Webarbeit gewidmet. Während der Großvater wegen eines Leidens aus dem Krieg 1870/71 behindert war und nur tagsüber weben konnte, habe die Großmutter oft bis spät in die Nacht gearbeitet: „Das fertige Tuch luden sie alle vier Wochen auf eine Schiebkarre und lieferten es so bis nach Reckenfeld oder Ladbergen. Die Frau zog dabei die Karre, während der Mann schob.“ Der so mühevoll abgewickelte Verkauf wird sich nur gerechnet haben, wenn eine entsprechende Menge fertiges Tuch dafür vorhanden war. Ob zwei Heimweber, in diesem Fall ein behinderter Mann und eine Frau, dies in der genannten Zeit schaffen konnten, darf bezweifelt werden. Zumal der Weberei noch allerlei Vorarbeiten wie Spinnen und Herstellen der Kettbäume vorgeschaltet werden mussten. Da waren durchaus webende Mitarbeiter denkbar.

Unklar ist, wie lange die Familie diese aufwendige und sehr mühvolle Art des Leinenhandels betrieb. Denn die Familientradition weiß ferner dazu, dass Wilhelm Reckerfelderbäumer „zu den ersten Fabrikarbeitern bei Gröning“ gehört habe. Dabei dürfte er einen der ersten industriellen Arbeitsplätze eingenommen haben, die Wilhelm Gröning in der 1886 errichteten mechanischen Textilfabrik mit 30 Webstühlen geschaffen hatte. Die Fabrikarbeit sicherte einen höheren und vor allem regelmäßigen Verdienst, so dass Wilhelm Reckenfelderbäumer eine Kuh abschaffen und den Kotten verkleinern konnte, zumal ihm die Landarbeit immer schwerer gefallen war. Der reduzierte Viehbestand und der Abbau der Heimarbeit führten zwangsläufig zu baulichen Veränderungen im Haus: Aus einem Kuhstall wurde eine Waschküche und die große Webkammer wurde geteilt, so dass dort zwei Schlafstuben entstanden.

Da sich sein Kriegsleiden verschlimmerte, verstarb Wilhelm Reckenfelderbäumer bereits 1896 im Alter von nur 49 Jahren. Er hinterließ Frau und drei Kinder, von denen der jüngste Sohn gerade 12 Jahre alt war. Die Witwe verdingte sich kurz darauf in der 1891 von holländischen Kaufleuten gegenüber dem Bahnhof errichteten Fischräucherei. Diese ging 1909 in Konkurs, so dass sie spätestens zu diesem Zeitpunkt ihre Arbeit verlor. Inzwischen hatte ihr ältester Sohn August, der 1904 die Mesumerin Anna Theresia Dinkels geheiratet hatte, das Anwesen geerbt und übernommen. Von ihm bekam es danach sein ältester Sohn Franz, der 1907 geboren wurde und 1991 verstarb. Das Haus wurde mehrfach umgebaut – so wurde u.a. aus der Eingangstür zum Weg ein großes Wohnzimmerfenster -, später von der Familie kurzzeitig vermietet und dann vor einigen Jahren verkauft, ehe es jetzt abgebrochen wurde, um einem neuen Wohnhaus Platz zu machen.

Text und Bilder: Franz Greiwe

Vor dem Umbau

Das alte Fachwerkhaus vor dem Umbau mit der ursprünglichen Eingangstür zur Straße hin

 

1975.2Das Fachwerkhaus Reckenfelderbäumer am Hohe Heideweg 1975, nachdem ein großes Wohnzimmerfenster die frühere Eingangstür ersetzte

R'bäumer Grundriss 2
Der rekonstruierte Grundriss zeigt die ursprüngliche Aufteilung und Hausnutzung: Ein Haus zum Wohnen, Arbeiten und fürs ViehReckenfelderbäumer 1975.1